IM GESPRÄCH: Alexander Graeff - Kandinskys Einfluss und die Herausforderungen in Weimar
Heute ist der Geburtstag von Wassily Kandinsky. Der Künstler galt lange als Urheber der abstrakten Malerei, bis entdeckt wurde, dass die Schwedin Hilma af Klint wenige Jahre vor ihm die ersten abstrakten Gemälde malte, die allerdings erst lange nach ihrem Tod an die Öffentlichkeit gelangten. In Düsseldorf gab es dieses Jahr unter dem Titel »Träume von der Zukunft« die erste Ausstellung, die beider Werke zeigte.
Über Kandinskys Zeit am Bauhaus in Weimar hat der Autor und Philosoph Alexander Graeff ein kenntnisreiches, einfühlsames Künstlerporträt geschrieben. WASSILY KANDINSKY – MALER, GRAFIKER UND PÄDAGOGE IN WEIMAR widmet sich der Entwicklung von Kandinskys künstlerischen Visionen und gesellschaftlichen Ideen und weshalb er und der Bauhaus-Kreis es mit ihrem unkonventionellen Lebensstil im konservativen Weimar schwer hatten.
Zum Anlass von Kandinskys Todestag haben wir mit Alexander Graeff über die Modernität dieses Künstlers gesprochen, über Abschottungspraxen im Kulturbetrieb, über reaktionäre politische Entwicklungen und was man von Kandinsky heute lernen kann, was er dem Konservatismus entgegenzusetzen hatte.
Alexander, Du beschäftigst Dich bereits seit geraumer Zeit mit Wassily Kandinsky und seinem Werk, auf literarischer wie auf wissenschaftlicher Ebene. Was stand am Anfang dieser Faszination?
Kandinsky als Thema begleitete mich ein bisschen mehr als zehn Jahre, von 2006 bis ungefähr 2016. Heute habe ich andere Themen, nicht zuletzt auch, weil wir in einer Zeit leben, die mir als Schriftsteller und Sozialphilosoph andere Dringlichkeiten auferlegt, allem voran der erstarkende Faschismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit in Europa und die Klimakrise.
Am Anfang meiner Faszination stand Kandinskys Text Über das Geistige in der Kunst, auf den ich 2006 gestoßen war. Mich faszinierte daran, dass es Kandinsky gelang, mystische Gedanken mit Fragen der Kunst zusammenzubringen. Ich studierte also seine Texte und promovierte ab 2007 zu Kandinskys weltanschaulichen und bildungsphilosophischen Ideen in seinem Textwerk, das vor allem aus Essays über Kunst, Pädagogik und Gesellschaft besteht, aber eben auch aus Lyrik. Neben der Dissertation Kandinsky als Pädagoge und Kandinsky in Weimar habe ich ja dann auch 2016 seine unveröffentlichten Gedichte in Vergessenes Ovalherausgegeben.
Interessanterweise legst Du in der Biografie Kandinsky in Weimar offen, dass Kandinsky, dessen Werk man nun nicht gerade damit assoziiert, von der oft vielgescholtenen Romantik beeinflusst war. Ein Widerspruch zur radikalen Modernität seiner Kunst?
Nicht im Geringsten. Das, was als ›klassische Moderne‹ bezeichnet wird, kann nur ein unzulängliches Label sein, wenn es verschweigt, dass es Widersprüche gegeben hat zwischen progressiven und regressiven, modernen und romantischen, aufgeklärten und okkulten Ideen. Gute Beispiele sind Werke der abstrakten Kunst, die meistens nicht allein am Konkreten gewonnen wurden, sondern oft Ausdruck einer tiefen Mythenliebe und religiösen Verehrung sind. Malewitschs berühmtes Schwarzes Quadrat etwa war nicht nur als schnödes schwarzes Quadrat auf weißem Grund intendiert, sondern auch als Darstellung des demiurgischen Gottes der Gnosis. Die Vertreter:innen der ›klassischen Moderne‹ verstanden es sehr gut, Widersprüche in ihrem Denken zu vereinen. Sie zeigen damit auch, was »Dialektik der Aufklärung« bedeutet. Mit Beginn der Moderne waren die problematischen Ressourcen des Abendlandes nämlich mitnichten verschwunden, die Kunst dieser Epoche stellte sie sogar aus, verklärte sie oder revoltierte gegen sie.
Was genau meinst Du mit »problematischen Ressourcen«?
Naja, unsere abendländische Kultur ist ja nicht nur geprägt durch Humanismus, Aufklärung und – vor allem in Weimar – einem ästhetischen Klassiker-Ideal, sondern zeitgleich auch durch patriarchalen Geniekult, Kolonialismus, Rassismus und hierarchischen Humanismus, in dem Tiere als gefühllose Maschinen degradiert wurden; Chauvinismus, Sexismus und linearer Fortschrittsglaube gesellen sich noch dazu – die Liste ist lang.
Du stellst auch heraus, dass das progressive Bauhaus und alle, die damit involviert waren, nicht auf große Gegenliebe bei der Weimarer Bürger:innenschaft stießen. Was machte die Ideen der Bauhaus-Künstler:innen so unkonventionell, was an ihrer Lebensweise provozierte?
Ich denke, man muss sich vergewissern, was das für eine Gesellschaft war, damals in Weimar, als Gropius Leiter des Bauhaus wurde. Weimar war, wie viele Städte in Deutschland, beherrscht von Provinzialismus, Chauvinismus, Antisemitismus und Xenophobie seiner Bürger:innen. Gegen diese Mentalität halfen auch keine ›klassische Bildung‹ oder die hochgelobten humanistischen Werte der Weimarer Klassik. Und dann kommt so ein junger Architekt, der nicht nur den kunstgewerblichen Teil der neuen Hochschule leiten soll, sondern auch die großherzogliche Hochschule für bildende Kunst, die mit der Kunstgewerbeschule zusammengelegt wurde, und versammelt im neuen Bauhaus in kürzester Zeit nicht nur progressive Weltanschauungen, sondern auch jüdische und ausländische Studierende und Lehrende. Die »Residenz des Teufels« wurde das frühe Bauhaus in Weimar damals genannt.
Heute sind die einstigen Aufrührer:innen längst im bildungsbürgerlichen Kanon angekommen. Über zeitgenössische Werke mit ähnlichen Ambitionen wird jedoch oft noch die Nase gerümpft. Ist die Kunst- und Kulturszene vielleicht viel konservativer, als sie selbst zu sein glaubt?
Natürlich ist sie das. Das hat mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zu tun, deren Emanzipation seit Mitte des 18. Jahrhunderts durch eine Abgrenzungs- und Abschottungspraxis erreicht wurde. Die bürgerliche Gesellschaft trug auf der einen Seite zu Liberalisierungsprozessen bei, auf der anderen Seite war sie durch die historisch bedingte Abgrenzung vom Adel nach »Oben« stets um Distinktion nach »Unten« bedacht. Zu diesem sozialen Mechanismus gesellten sich die Bildungsinstrumente Literatur und Kunst. So wurde gerade kein breites und mittleres soziales Milieu zum entscheidenden Kulturträger, sondern vorrangig ein gebildetes und »gehobenes« Bürgertum, das seine systemtragenden Normen als einziges Deutungsmuster für Kunst und Gesellschaft implementierte.
Das politische Klima der Kunst- und Kulturszene heute würde ich als liberal-konservativ beschreiben; natürlich gibt es Interesse an Innovation, wenn es aber um die Reflexion der eigenen Strukturen und Privilegien geht, ist man schon eher konservativ. Was sozialhistorisch eben nicht verwundert. Schließlich geht es auch heute noch viel um Angst vor dem Verlust von Deutungshoheit und damit Macht.
Wie zeigt sich diese Abgrenzungs- und Abschottungspraxis heute?
Als ich 2007 zu promovieren begann, standen auch Besuche in Archiven an, um an Kandinskys Textmaterial zu kommen. War das Bauhaus Archiv in Berlin sehr offen und hilfsbereit, gab mir hingegen das Gabriele-Münter-Archiv im Lenbachhaus in München unmissverständlich zu verstehen, dass nicht jede:r Kandinskyforscher:in Zugang zu den Archiven bekäme. Insgesamt lernte ich die sehr selektive Art kennen, wie die geliebten VIPs der ›klassischen Moderne‹ tourismusfähig und möglichst unideologisch präsentiert werden. Dass Kandinsky und Gabriele Münter an Telepathie und Spiritismus glaubten und sich darüber in ihrem umfangreichen Briefwechsel austauschten, wurde bei der bruchstückhaften Herausgabe ebenjenes Briefwechsels unter den Tisch fallen gelassen. Sowas passt halt nicht ins bürgerliche Bild beider Vorzeigekünstler:innen.
Wo wir schon bei diesen Entwicklungen sind: Du hast für die Biografie zuletzt 2015 in Weimar geforscht. Was hat sich dort und in Thüringen seither verändert?
Als ich Kandinsky in Weimar schrieb, hatten uns ja schon die Horrornachrichten über AfD & Co. erreicht. Ich musste während der Recherchen oft innehalten, denn die Parallelität war so eklatant, dass ich fast nicht darauf klar kam. Ich las viele Zeitungsartikel aus der Zeit der Bauhausgründung. Der populistische Ton dieser Artikel erinnerte mich erschreckend an meine Gegenwart.
Thüringen war damals ein wichtiger Nährboden für den ab 1925 immer mächtiger werdenden Nationalsozialismus. Aber nicht nur die NSDAP wuchs hier beständig, auch andere völkisch-nationale Parteien hatten starken Zulauf. Der sogenannte Thüringer Ordnungsbund, ein Zusammenschluss bürgerlich-konservativer und rechtsextremer Gruppierungen mit Heimatschutz-Verbänden und der Deutschnationalen Volkspartei wurde dann 1924 Wahlsieger im thüringischen Landtag. Aus einem ähnlichen Klientel setzt sich heute die AfD zusammen. Die Landtagswahl im September 2024 – exakt 100 Jahre später – hat ja diese Parallelität letztendlich auch gezeigt.
Was hat Kandinsky möglicherweise jenen gefährlichen Entwicklungen entgegenzusetzen?
An Kandinskys Kunst und Leben kann man den Umgang mit Veränderungen lernen. Er experimentierte nicht nur in der Kunst, auch sein Leben war von ständigen Brüchen geprägt. Mit 30 brach der Nationalökonom seine Promotion in Moskau ab und entschied sich für ein Kunststudium in München, umgeben von zehn Jahre jüngeren Mitstudenten. Er war einer der ersten, der Frauen im Zeichnen unterrichtete, liebte dadaistische Poesie genauso wie Religionen und Mythen; er lebte lange neben seiner Ehe in einer offenen Beziehung mit Gabriele Münter und war mit allen möglichen Künstler:innen und Dichter:innen Europas verbunden.
Mittlerweile gilt Kandinsky nicht mehr als Erfinder abstrakter Malerei oder zumindest gibt es eine Debatte darum. Die Schwedin Hilma af Klint, die wie Kandinsky 1944 verstarb, begann bereits 1906 ungegenständlich zu malen. Obwohl die beiden sich nie getroffen haben, gab es in ihrem Leben und in ihren Interessen einige Überschneidungen. Welche Rolle spielen dabei okkulte Ansätze?
Ja, das sind die Gemeinsamkeiten. Beide hatten ein Faible für das Okkulte, für Spiritismus, Theosophie und Rudolf Steiners Anthroposophie. Für beide Künstler:innen ist dieser Einfluss als maßgeblich für die Entwicklung ihrer abstrakten Kunst zu beurteilen. Hilma af Klint bereits fünf Jahre früher als Kandinsky, der 1906 noch expressionistisch-gegenständlich malte. Die Inspiration beim Okkulten trifft aber auf zahlreiche Künstler:innen der ›klassischen Moderne‹ zu. Nicht-etablierte und deviante Formen des Religiösen würde ich als zentral für die Entwicklung der Modernen Kunst bezeichnen, was ich inOkkulte Kunst ja auch versucht habe zu zeigen.
An der Stelle möchte ich gerne an eine aktuelle Veröffentlichung anknüpfen, deren Autorin Dir aus der Queer Theory bekannt ist; Maggie Nelsons KUNST UND GRAUSAMKEIT. Nelson geht es u. a. darum, nicht das Narrativ zu perpetuieren, dass Grausamkeit des Menschen Essenz sei, und stattdessen Raum für neue Fragen und somit eine andere Welt zu schaffen. Auch Kandinsky war ja, wie Du schreibst, sein Leben lang gedanklich mit der »Weiterentwicklung des Menschen und [der] Neuschöpfung der Gesellschaft durch die Kunst« beschäftigt. Wie würde solch eine Neuschöpfung gemäß Kandinsky aussehen?
Es fällt mir dann doch schwer, Maggie Nelson und Kandinsky zu vergleichen. Dass beide an die Emanzipation und Progression von Gesellschaft glauben, ist ja nur eine basale Gemeinsamkeit. Kandinsky ging, anders als Nelson, von Essenzen aus. In meiner Promotion bezeichne ich ihn als spiritualistischen Intellektuellen. Für ihn existierten geistige Bausteine der Welt; im Materialismus sah er den Feind dieser geistigen Essenzen. Intellektuell würde ich ihn insofern beschreiben, weil er an Hegels Weltgeist und derlei Philosopheme glaubte, er ist aber wohl auch als religiös zu bezeichnen, da es in seinem Weltbild sowohl die Existenz des Okkulten gab, als auch eine gnostische Geschichtsentwicklung – Paradies, Sündenfall durch Materialismus, dann neues Zeitalter und neue Menschen durch das »Geistige in der Kunst«. Mit heutigen Philosophien und wissenschaftlichen Erkenntnissen ist das alles allerdings nicht zusammenzubringen – was nicht bedeuten soll, dass heute keine:r mehr an vergleichbare Dinge glaubt, wie es Kandinsky getan hat.